15.11.2024
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Dokument-Nr. 2116

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Bundesgerichtshof Urteil23.03.2006

Anordnung der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung aufgehoben

Das Landgericht Passau hat mit Urteil vom 10. Juni 2005 gegen den wegen Vergewaltigung Verurteilten die nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung angeordnet und ihn zugleich in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus überwiesen.

Der 72jährige Verurteilte leidet seit einer Kopfverletzung in seiner Jugend an einer organischen Persön­lich­keits­s­törung; ein Hirnsub­stanz­defekt führt bei ihm zu einem forts­chrei­tenden Persön­lich­keitsabbau. Nachdem gegen ihn im Jahr 1994 eine Bewäh­rungs­strafe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verhängt worden war, verurteilte ihn das Landgericht Passau am 16. März 1999 wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von drei Jahren und sechs Monaten (sog. Anlass­ver­ur­teilung). Nach den Urteils­fest­stel­lungen hatte der Verurteilte mit der 12jährigen Tochter seiner Geliebten gegen deren Widerstand den ungeschützten Geschlechts­verkehr durchgeführt.

Der Verurteilte verbüßte die verhängte Freiheitsstrafe vollständig. Er verblieb auch nach Strafende in der Justiz­voll­zugs­anstalt, da das Landgericht Bayreuth mit Beschluss vom 10. April 2002 seine dortige Unterbringung nach dem Bayerischen Gesetz zur Unterbringung besonders rückfa­ll­ge­fährdeter Straftäter (BayStrUBG) angeordnet hatte. Nachdem der Vollzug der Unterbringung im Dezember 2003 für die Dauer eines Jahres ausgesetzt worden war und der Verurteilte weisungsgemäß Aufenthalt in einem Seniorenheim genommen hatte, kam es dort im Januar und Februar 2004 zu mehreren sexuellen Übergriffen auf demente Mitbe­woh­ne­rinnen. Der Verurteilte wurde daraufhin erneut in den Unter­brin­gungs­vollzug genommen. Auf seine Verfas­sungs­be­schwerde erklärte das Bundes­ver­fas­sungs­gericht mit Urteil vom 10. Februar 2004 das BayStrUBG wegen fehlender Gesetz­ge­bungs­kom­petenz für mit dem Grundgesetz unvereinbar (BVerfGE 109, 190). Der Verurteilte befindet sich nunmehr in einem psychiatrischen Krankenhaus. Wegen der Vorfälle in dem Seniorenheim ist gegen ihn vor dem Landgericht Hof auch ein Siche­rungs­ver­fahren gem. §§ 413 ff. StPO wegen sexuellen Missbrauchs wider­stand­s­un­fähiger Personen anhängig.

Das Landgericht Passau hat mit seiner Anordnung nachträglicher Siche­rungs­ver­wahrung an die Verurteilung vom 16. März 1999 wegen Vergewaltigung angeknüpft. Als neu hervorgetretene Tatsachen, die die erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten belegen, hat es gewertet, dass der Verurteilte während der Haftzeit seine Straftaten geleugnet und jegliche Sexualtherapie verweigert hat, und er aufgrund des während des Strafvollzuges fortge­schrittenen hirnorganischen Abbaus nicht in der Lage ist, Grenzen im Sexualbereich zu erkennen. Die Vorfälle in dem Seniorenheim spiegelten dies wider. Die zugleich ausgesprochene Überweisung in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sei aufgrund des – von den angehörten Sachver­ständigen bestätigten – Behand­lungs­bedarfs des Verurteilten gerechtfertigt.

Das Urteil des Landgerichts Passau auf die Revision des Verurteilten wurde aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Die nachträgliche Anordnung von Siche­rungs­ver­wahrung gem. § 66 b StGB setze neue Tatsachen voraus, die nach der Anlass­ver­ur­teilung und vor Ende des Vollzuges der verhängten Freiheitsstrafe bekannt geworden seien. Die sexuellen Übergriffe des Verurteilten ereigneten sich demgegenüber nicht während des Strafvollzuges, sondern in einem Seniorenheim; sie hätten daher außer Betracht zu bleiben. Der Gesetzgeber habe zudem durch eine Überg­angs­re­gelung (Art. 1 a Satz 2 EGStGB) ausdrücklich klargestellt, dass während der landes­recht­lichen Unterbringung hervorgetretene Umstände keine neuen Tatsachen im Sinne von § 66 b StGB darstellen. Hinsichtlich der verbleibenden Umstände – Thera­pie­ver­wei­gerung, Hirnsub­stanz­defekt – sei nicht hinreichend festgestellt, ob und inwieweit diese bereits im Zeitpunkt der Anlass­ver­ur­teilung erkennbar gewesen seien. So stelle insbesondere eine Thera­pie­ver­wei­gerung dann keine neue Tatsache dar, wenn der Verurteilte seine Taten durchgehend bestritten habe, das Ursprungs­gericht daher nicht habe davon ausgehen können, dass er sich einer Therapie unterziehen werde. Die Überweisung des Verurteilten in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus entfalle mit Aufhebung der Anordnung der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung; sie sei wegen des Fehlens einer gesetzlichen Grundlage aber auch im Übrigen bedenklich. Wegen der Vorfälle in dem Seniorenheim werde dem anhängigen Siche­rungs­ver­fahren Fortgang zu geben sein.

Vorinstanz:

Landgericht Passau – Urteil vom 10. Juni 2005 – KLs 209 Js 8551/98

Quelle: Pressemitteilung Nr. 50/2006 des Bundesgerichtshof vom 23.03.2006

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