15.11.2024
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Dokument-Nr. 3231

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Bundesgerichtshof Urteil24.10.2006

Keine Strafbarkeit wegen Nichtabführung von Sozia­l­ver­si­che­rungs­bei­trägen bei Vorlage einer durch einen Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaft ausgestellten "E 101-Bescheinigung"Bei "E 101-Bescheinigung" deutsches Sozia­l­ver­si­che­rungsrecht nicht anwendbar

Wenn in Deutschland keine sozia­l­rechtliche Beitragspflicht besteht (z.B. wegen "E 101-Bescheinigung"), scheidet eine Strafbarkeit wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach § 266 a StGB scheidet aus. Die "E 101-Bescheinigung" hat die Unanwendbarkeit deutschen Sozia­l­ver­si­che­rungs­rechtes zur Folge. Daher besteht auch keine sozia­l­rechtliche Beitragspflicht in Deutschland, deren Verletzung strafrechtliche Bedeutung haben könnte. Das hat der Bundes­ge­richtshof entschieden.

Das Landgericht München I hat mit Urteil vom 14. Juli 2005 den Angeklagten F. wegen Nichtabführens von Sozia­l­ver­si­che­rungs­bei­trägen (§ 266 a StGB) in 11 Fällen zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten H. hat es wegen Beihilfe zu diesen Taten unter Einbeziehung mehrerer Einzelstrafen aus Vorver­ur­tei­lungen zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von zwei Jahren und daneben zu einer Gesamt­geldstrafe verurteilt. Die Vollstreckung beider Gesamt­frei­heits­s­trafen hat das Landgericht zur Bewährung ausgesetzt.

Nach den Feststellungen des Landgerichtes betrieb der Angeklagte F. in Deutschland ein Bauunternehmen, das portugiesische Arbeiter beschäftigte. Um die Arbeiter der deutschen Sozia­l­ver­si­che­rungs­pflicht zu entziehen, wurden sie mittels pro forma geschlossener Arbeitsverträge bei portugiesischen Bauge­sell­schaften angestellt. Die portugiesischen Firmen traten zum Schein auch in die Bauaufträge des deutschen Unternehmens ein. Die Scheinverträge wurden von dem Angeklagten H., einem ehemaligen Rechtsanwalt, erstellt. Tatsächlich hatten die portugiesischen Gesellschaften weder Kontakt zu "ihren" Arbeitnehmern noch zu den Bauherren. Arbeits­ver­hältnisse und Geschäfts­be­zie­hungen bestanden allein mit dem vom Angeklagten F. geführten Unternehmen, das die Arbeiter auf Baustellen in Deutschland einsetzte und ihnen – wenn auch über die Konten der portugiesischen Gesellschaften - ihren Lohn auszahlte.

Durch die angeblichen Arbeits­ver­hältnisse in Portugal sollte eine nur vorübergehende Entsendung der Arbeiter nach Deutschland vorgetäuscht werden. Die deutschen sozia­l­ver­si­che­rungs­recht­lichen Vorschriften und die europäische Verordnung Nr. 1408/71 sehen für den Fall einer derartigen Entsendung vor, dass der Arbeitnehmer nur in dem Staat zu versichern ist, von dem aus er entsandt wird. Zur Durchführung regelt die europäische Verordnung Nr. 574/72, dass der Sozia­l­ver­si­che­rungs­träger des Herkunfts­s­taates die Entsendung bestätigt und bescheinigt, dass der Beschäftigte den sozia­l­ver­si­che­rungs­recht­lichen Bestimmungen des Herkunfts­s­taates unterliegt (sog. "E 101-Bescheinigung"). Auf Veranlassung der Angeklagten stellten die portugiesischen Bauge­sell­schaften bei der portugiesischen Sozialbehörde einen Antrag auf Erteilung von E 101-Bescheinigungen, die auch ausgestellt wurden. Sozia­l­ver­si­che­rungs­beiträge wurden deshalb in Deutschland nicht abgeführt; nach der Berechnung des Landgerichtes entstand hierdurch ein Beitragsschaden in Höhe von insgesamt 112.132,40 €. Ob für die Arbeiter Beiträge in Portugal entrichtet wurden, hat das Landgericht nicht festgestellt.

Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die portugiesischen Arbeiter in Deutschland sozia­l­ver­si­che­rungs­pflichtig waren. Den E 101-Bescheinigungen hat es nur formale Bedeutung beigemessen. Sie hindern nach Auffassung des Landgerichtes die Entstehung von Beitrags­ansprüchen der deutschen Sozia­l­ver­si­che­rungs­träger und damit eine Strafbarkeit wegen Beitrags­vor­ent­haltung nicht. Hiergegen wenden sich die Revisionen beider Angeklagter, die geltend machen, dass mit den Bescheinigungen die Sozia­l­ver­si­che­rungs­pflicht in Deutschland entfalle.

Der Bundes­ge­richtshof hat beide Angeklagte unter Aufhebung des landge­richt­lichen Urteiles freigesprochen. Nach den Feststellungen des Landgerichtes bestehe zwar kein Zweifel daran, dass die Voraussetzungen einer Entsendung nach § 5 Abs. 1 SGB IV und Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht vorliegen. Dem Landgericht war angesichts der von dem portugiesischen Sozia­l­ver­si­che­rungs­träger ausgestellten E 101-Bescheinigung gleichwohl gehindert, seiner Beurteilung deutsches Sozia­l­ver­si­che­rungsrecht zugrunde zu legen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes kommt den von den Sozialbehörden des Entsendestaates ausgestellten Bescheinigungen bindende Wirkung für die Sozia­l­ver­si­che­rungs­träger und Gerichte des Gastlandes zu. Dies folge - so der Europäische Gerichtshof - aus dem Zweck der Verordnungen Nr. 1408/71 und 574/72, die Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit und die Dienst­leis­tungs­freiheit zu fördern und jeden Arbeitnehmer nur an ein einziges System der sozialen Sicherheit anzuschließen. Diese eindeutige Rechtszuordnung wäre gefährdet, wenn die Behörden des Gastlandes sich nicht an die Bescheinigung gebunden sähen und den Betroffenen (zusätzlich) ihrem eigenen Sozia­l­ver­si­che­rungs­system unterstellen würden. In Konfliktfällen sei der Versi­che­rungs­träger des Aufnahmestaates daher gehalten, gegenüber dem Versi­che­rungs­träger des Entsendestaates auf eine Rücknahme der Bescheinigung hinzuwirken. Gelinge auf diesem Wege keine Verständigung, könne der Träger des Aufnahmestaates im Entsendestaat klagen oder ein Vertrags­ver­let­zungs­ver­fahren nach Art. 227 EG-Vertrag einleiten.

Der Bundes­ge­richtshof hat klargestellt, dass hiernach auch die an einem inner­staat­lichen Strafverfahren beteiligten Behörden und Gerichte an eine aus einem Mitgliedsstaat stammende E 101-Bescheinigung gebunden sind. Eine Strafbarkeit wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach § 266 a StGB scheidet bereits deshalb aus, weil die Bescheinigung die Unanwendbarkeit deutschen Sozia­l­ver­si­che­rungs­rechtes zur Folge hat, demzufolge auch keine sozia­l­rechtliche Beitragspflicht in Deutschland besteht, deren Verletzung strafrechtliche Bedeutung haben könnte. Die Bindungswirkung einer E 101-Bescheinigung entfällt auch nicht in Fällen, in denen die Bescheinigung durch Manipulation oder Täuschung erschlichen wurde. Eine entsprechend der Bestimmung des § 330 d Nr. 5 StGB vorzunehmende Gleichstellung solchen Verhaltens mit einem geneh­mi­gungslosen Handeln lässt, wie der Bundes­ge­richtshof ausführt, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht zu. Dies gilt in gleicher Weise für eine strafrechtliche Beurteilung unter dem Gesichtspunkt eines etwaigen Betruges.

Der Bundes­ge­richtshof musste nicht entscheiden, wie sich die grundsätzlich mögliche Rücknahme einer E 101-Bescheinigung durch den ausländischen Sozia­l­ver­si­che­rungs­träger in straf­recht­licher Hinsicht auswirkt. Er hatte auch nicht darüber zu befinden, ob nach derzeitiger Rechtslage einer missbräuch­lichen Erlangung und Verwendung von Entsen­de­be­schei­ni­gungen mit entsprechenden hohen finanziellen Einbußen deutscher Sozia­l­ver­si­che­rungs­träger überhaupt hinreichend begegnet werden kann. Hier könnte eine Verbesserung der europäischen Rechtslage angezeigt sein.

Vorinstanz:

LG München I – Entscheidung vom 14. Juli 2005 - 5 KLs 303 Js 42943/02 –

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 143/2006 des BGH vom 24.10.2006

der Leitsatz

StGB § 266 a Abs. 1 und 2, § 5 Abs. 1; SGB IV § 6

1. Eine von einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union erteilte Entsen­de­be­schei­nigung (E 101) bindet auch die deutschen Organe der Straf­rechts­pflege.

2. Die Durchführung eines Strafverfahrens wegen Vorenthaltens von Sozia­l­ver­si­che­rungs­bei­trägen (§ 266 a Abs. 1 StGB) ist ebenso gehindert wie eine Strafverfolgung in Zusammenhang mit Erklärungen gegenüber den Behörden des Entsendestaates zur Erlangung der E 101-Bescheinigung jedenfalls solange die erteilte Bescheinigung nicht zurückgenommen ist.

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