14.11.2024
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Urteil13.01.2010Bundesgerichtshof1 StR 372/09
Vorinstanz:
  • Landgericht München II, Urteil17.02.2009, NSV 1 JKIs 22 Js 11438/94
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil13.01.2010

Nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung eines Sexual­straf­täters nur bei Vorbringen neuer Tatsachen möglichEine Neubewertung bereits bekannter Tatsachen für Anordnung einer Sicher­heits­ver­wahrung nicht ausreichend

Um die Anordnung einer nachträglichen Sicher­heits­ver­wahrung eines Sexual­straf­täters erwirken zu können, müssen vor Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe neue Tatsachen für die Gefährlichkeit des Verurteilten vorgebracht werden. Dies entschied der Bundes­ge­richtshof.

Im zugrunde liegenden Fall hatte der Bundes­ge­richtshof die Voraussetzungen der Anordnung einer nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB gegen einen im Jahre 1995 zu einer 14-jährigen Freiheitsstrafe verurteilten, heute 58-jährigen Sexual­straftäter zu klären.

Entscheidung des Landgerichts war rechts­feh­lerfrei

Das Landgericht München II hatte mit Urteil vom 17. Februar 2009 den Antrag der Staats­an­walt­schaft zurückgewiesen, gegen den Verurteilten nachträglich die Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung anzuordnen. Die dagegen gerichtete Revision der Staats­an­walt­schaft hat der Bundes­ge­richtshof verworfen. Die Entscheidung des Landgerichts erwies sich als frei von Rechtsfehlern, sie entspricht der Rechtslage.

Sachverhalt

Der Verurteilung aus dem Jahre 1995 – sog. Anlass­ver­ur­teilung aufgrund derer die Staats­an­walt­schaft die nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung beantragte – lag ein schweres Sexua­l­ver­brechen zugrunde. Der Verurteilte missbrauchte während einer Nacht im April 1994 zwei vierzehn und fünfzehn Jahre alte Anhalterinnen in seinem speziell hierfür präpariertem VW-Bus. Die Tat hatte der Verurteilte zuvor genau geplant. Über mehrere Stunden hinweg vergewaltigte er die Opfer unter Beifügung von besonders entwürdigenden und schmerzhaften Verletzungen. Er versetze sie unter Bedrohung mit einer Pistole in Todesangst, verklebte zudem deren Mund und fesselte sie.

Voraussetzungen für Sicher­heits­ver­wahrung lagen bei Verurteilung nicht vor

Bei der Anlass­ver­ur­teilung im Jahre 1995 war die Anordnung der (primären) Siche­rungs­ver­wahrung gemäß 66 StGB aus Rechtsgründen nicht möglich. Die vom Gesetz nach § 66 StGB geforderten Vorver­ur­tei­lungen – so genannte formelle Voraussetzungen – lagen nicht vor.

Hang des Verurteilten zu erheblichen Straftaten laut Gutachter nicht gegeben

Die Strafkammer, die 1995 zu entscheiden hatte, sah zudem auch die materiellen Voraussetzungen für die primäre Siche­rungs­ver­wahrung nicht als gegeben an. Entsprechend der Empfehlung des damals gehörten Sachver­ständigen verneinte sie einen Hang (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB) des Verurteilten zu erheblichen Straftaten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, wodurch er für die Allgemeinheit hätte gefährlich werden können.

Sachver­ständiger beurteilt Straftäter aus heutiger Sicht als gefährlich für die Allgemeinheit

Die Strafkammer, die nunmehr über die nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung nach § 66 b StGB zu entscheiden hatte, stellte – wiederum sachverständig beraten – freilich nunmehr doch einen Hang fest. Sie kam zu dem Ergebnis, dass vom Verurteilten sehr wohl erhebliche Sexual­straftaten zu erwarten sind. Deshalb sei er für die Allgemeinheit gefährlich. Diese – von der Anlass­ver­ur­teilung abweichende – Beurteilung des Hanges und der Gefährlichkeit beruht freilich allein auf einer Neubewertung der bereits damals bekannten Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Verurteilten.

Vor Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe müssen neue Tatsachen für Gefährlichkeit des Verurteilten vorliegen

Rechtsgrundlage für die nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung konnte hier nur Absatz 2 des § 66 b StGB sein. Liegt ein Hang vor, so kann die Maßregel unter anderem dann angeordnet werden, wenn der Verurteilte bei der Anlass­ver­ur­teilung wegen eines Sexua­l­ver­brechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt wurde. Diese (formelle) Voraussetzung war hier gegeben. Das Gesetz stellt allerdings noch eine zusätzliche Voraussetzung auf, die hier fehlt: Es müssen vor Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe Tatsachen – das müssen neue Tatsachen sein – für die Gefährlichkeit des Verurteilten erkennbar werden.

Veränderte Bewertung von Hang und Gefährlichkeit scheidet als neue Tatsache aus

Tatsachen sind dann nicht "neu", wenn sie bereits bei der Anlass­ver­ur­teilung erkennbar oder – wie hier – sogar schon bekannt waren. Nach der Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs und des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts sind Tatsachen insbesondere dann nicht "neu", wenn der Hang und die Gefährlichkeit aufgrund bereits damals bekannter und unverändert gebliebener Tatsachen lediglich anders bewertet werden. Das ist hier der Fall. Deshalb muss die auf gleicher Tatsa­chen­grundlage bloß veränderte Bewertung von Hang und Gefährlichkeit als neue Tatsache ausscheiden. Andere "neu" bekannt gewordene Tatsachen, insbesondere während des Strafvollzugs, auf welche die Gefährlichkeit gestützt werden könnte, hat das Landgericht nicht festgestellt.

Damit waren die vom Gesetz geforderten Voraussetzungen für die nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung nicht gegeben.

StGB § 66 Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung

Erläuterungen
(1) Wird jemand wegen einer vorsätzlichen Straftat zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Siche­rungs­ver­wahrung an, wenn

1. der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,

2. er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheits­ent­zie­henden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und

3. die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaft­licher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist.

(2) Hat jemand drei vorsätzliche Straftaten begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Siche­rungs­ver­wahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheits­ent­ziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen.

(3) Wird jemand wegen eines Verbrechens oder wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176, 179 Abs. 1 bis 4, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat ein Verbrechen oder eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Siche­rungs­ver­wahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Nr. 2 und 3 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Siche­rungs­ver­wahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheits­ent­ziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

(4) Im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Unter­su­chungshaft oder eine andere Freiheits­ent­ziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Nr. 2. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungs­be­reichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine vorsätzliche Tat, in den Fällen des Absatzes 3 eine der Straftaten der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

§ 66 b Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung

(1) Werden nach einer Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbst­be­stimmung oder eines Verbrechens nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit den §§ 252, 255, oder wegen eines der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Vergehen vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, so kann das Gericht die Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrschein­lichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, und wenn im Zeitpunkt der Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung die übrigen Voraussetzungen des § 66 erfüllt sind. War die Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung im Zeitpunkt der Verurteilung aus rechtlichen Gründen nicht möglich, so berücksichtigt das Gericht als Tatsachen im Sinne des Satzes 1 auch solche, die im Zeitpunkt der Verurteilung bereits erkennbar waren.

(2) Werden Tatsachen der in Absatz 1 Satz 1 genannten Art nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit, die sexuelle Selbst­be­stimmung oder nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255, erkennbar, so kann das Gericht die Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrschein­lichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

(3) Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67 d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledi­gungs­ent­scheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nachträglich anordnen, wenn

1. die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und

2. die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Vollzugs der Maßregel ergibt, dass er mit hoher Wahrschein­lichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

Quelle: ra-online, BGH

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