21.11.2024
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Dokument-Nr. 483

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Entscheidung11.05.2005Bundesgerichtshof1 StR 37/05
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Bundesgerichtshof Entscheidung11.05.2005

BGH hebt Urteil über Anordnung einer nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung auf

Das Landgericht Bayreuth hat mit Urteil vom 15. Oktober 2004 gegen den Verurteilten die nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung angeordnet. Dagegen richtet sich die Revision des Verurteilten.

Das Landgericht hatte ihn am 10. Februar 1997 wegen mehrfachen sexuellen Mißbrauchs von Schutz­be­fohlenen und sexuellen Mißbrauchs von Kindern zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Verurteilte verbüßte die Freiheitsstrafe vollständig bis zum 3. November 2002. Danach wurde gegen ihn mit Beschluß vom 7. Oktober 2002 die Unterbringung nach dem Bayerischen Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfa­ll­ge­fährdeten hochge­fähr­lichen Straftätern angeordnet. Im Zeitraum vom 4. November 2002 bis 30. September 2004 (Ende der Anwendbarkeit des Gesetzes nach Maßgabe des Urteils des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 10. Februar 2004 – 2 BvR 834/02) wurde die Unterbringung vollstreckt. Seit 1. Oktober 2004 ist der Verurteilte aufgrund Unter­brin­gungs­befehls vom 26. August 2004 gemäß § 275 a StPO in der Justiz­voll­zugs­anstalt St. Georgen-Bayreuth untergebracht.

Auf die Revision des Verurteilten hat der Bundes­ge­richtshof entsprechend auch dem in der Haupt­ver­handlung gestellten Antrag des General­bun­des­anwalts das Urteil des Landgerichts Bayreuth aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die heutige Entscheidung des 1. Strafsenats ist die erste des Bundes­ge­richtshofs, die zur nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung gemäß § 66 b Abs. 1 StGB ergeht. Das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung ist erst am 29. Juli 2004 in Kraft getreten. Der Bundes­ge­setzgeber wollte - so die Materialien - hierdurch den Schutz der Allgemeinheit vor hochge­fähr­lichen Straftätern sicherstellen, wenn sich die Gefährlichkeit erst nach einer straf­recht­lichen Verurteilung herausstellt und deswegen nicht schon im Strafurteil die Siche­rungs­ver­wahrung angeordnet worden war. Entsprechende Landesgesetze waren zuvor vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht wegen Verstoßes gegen die Kompe­tenz­vor­schriften des Grundgesetzes für verfas­sungs­widrig erklärt worden.

Das Landgericht hat die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 StGB nicht hinreichend festgestellt. Bei der Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung ist das überragende Gemein­wohl­in­teresse am Schutz vor solchen Verurteilten, von denen auch nach Verbüßung ihrer Freiheits­s­trafen schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbst­be­stimmung anderer mit hoher Wahrschein­lichkeit zu erwarten sind, mit dem Freiheits­grundrecht des Verurteilten abzuwägen. Die Unterbringung ist daher nur dann verhältnismäßig, wenn bei der Gefah­ren­prognose die Erkenntnisse aus der Lebens­ge­schichte und Krimi­na­li­täts­ent­wicklung des Verurteilten umfassend berücksichtigt werden. Dabei ist der Gesetzgeber ausdrücklich nur von einer geringen Anzahl denkbarer Fälle ausgegangen.

Unter Berück­sich­tigung vorstehender Grundsätze kommen als Grundlage einer nachträglichen Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung nur solche Tatsachen in Betracht, die nach einer Verurteilung erkennbar werden. Die Verweigerung oder der Abbruch einer Therapie – gerade durch Sexual­straftäter - können grundsätzlich zwar solche neuen Tatsachen darstellen und sind in aller Regel Anlaß für die Einleitung eines Verfahrens zur Prüfung der Voraussetzungen des § 66 b StGB; allein die Verweigerung oder der Abbruch einer Therapie reicht aber für sich nicht aus, eine nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung anzuordnen. Vielmehr ist Kern der materi­ell­recht­lichen Prüfung eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzuges. Andernfalls würde die Unterbringung zu einer unver­hält­nis­mäßigen Sanktion für fehlendes Wohlverhalten im Vollzug (BVerfGE 109, 190, 241). Mit welchem Gewicht eine Verwei­ge­rungs­haltung des Verurteilten die Gesamtwürdigung und die Gefähr­lich­keits­prognose beeinflussen kann, hängt vom konkreten Einzelfall ab.

Das Landgericht hat die Anordnung auf Unterbringung schon nicht auf einer ausreichenden Tatsa­chen­grundlage getroffen. Es fehlen jegliche Einzelheiten zu den von dem Verurteilten begangenen Straftaten und zu seinem persönlichen Werdegang. Im übrigen hat es weder einen Therapieabbruch noch eine Thera­pie­ver­wei­gerung dargelegt. Nach den bisherigen Feststellungen hat nicht der Verurteilte selbst, sondern die sozial­the­ra­peu­tische Abteilung in der Justiz­voll­zugs­anstalt München im März 1999 die nur einen Monat vorher begonnene Therapie beendet. Unklar ist, weshalb der offenbar bereits vor Beginn der Therapie gestellte Verle­gungs­antrag nach Niedersachsen ein Hindernis für die Durchführung der Therapie in München darstellen konnte. Ebensowenig reicht es aus, daß der Verurteilte mehrfach ergebnislos aufgefordert worden ist, sich auf freie Therapieplätze in anderen Justiz­voll­zugs­an­stalten zu bewerben. Das Landgericht hätte zumindest die Reaktion des Verurteilten schildern und sich mit seinen Beweggründen ausein­an­der­setzen müssen. Auch ist zu berücksichtigen, daß er seit März 2004 nun tatsächlich eine Sexualtherapie absolviert und damit für eine Thera­pie­un­wil­ligkeit keine weiteren Anzeichen mehr ersichtlich sind.

Hingegen stellt es keinen Rechtsfehler dar, daß das Landgericht nicht die Gutachten von zwei psychiatrischen Sachver­ständigen, sondern von einem Facharzt für Psychiatrie und einem Psychologen eingeholt hat. Auch liegt kein Verstoß gegen das allgemeine Rückwir­kungs­verbot vor.

Für die neue Haupt­ver­handlung hat der Senat der neu zur Entscheidung berufenen Strafkammer Hinweise gegeben. Insbesondere hat er herausgestellt, daß sich im Rahmen der Gesamtwürdigung eine abstrakte, auf statistische Wahrschein­lich­keiten gestützte Progno­se­ent­scheidung verbietet. Auch ein allgemein hohes Rückfallrisiko bei einer Pädophilie mit homosexueller Ausrichtung macht eine individuelle Gefähr­lich­keits­prognose erforderlich. Darüber hinaus sind auch im Rahmen des § 66 b Abs. 1 StGB Feststellungen zum Vorliegen eines Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB zu treffen.

Vorinstanz: LG Bayreuth – 1 KLs 3 Js 4919/96 –

Die einschlägigen Vorschriften lauten wie folgt:

Erläuterungen

§ 66 b StGB Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung

(1) Werden nach einer Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbst­be­stimmung oder eines Verbrechens nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit den §§ 252, 255, oder wegen eines der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Vergehen vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, so kann das Gericht die Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, daß er mit hoher Wahrschein­lichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, und wenn die übrigen Voraussetzungen des § 66 erfüllt sind.

(2) Werden Tatsachen der in Absatz 1 genannten Art nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit, die sexuelle Selbst­be­stimmung oder nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255, erkennbar, so kann das Gericht die Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nachträglich anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, daß er mit hoher Wahrschein­lichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

(3) …

§ 66 StGB Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung

(1) Wird jemand wegen einer vorsätzlichen Straftat zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Siche­rungs­ver­wahrung an, wenn

1. der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,

2. er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheits­ent­zie­henden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und

3. die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, daß er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaft­licher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist.

(2) Hat jemand drei vorsätzliche Straftaten begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Siche­rungs­ver­wahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheits­ent­ziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen.

(3) Wird jemand wegen eines Verbrechens oder wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176, 179 Abs. 1 bis 4, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat ein Verbrechen oder eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Siche­rungs­ver­wahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Nr. 2 und 3 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Siche­rungs­ver­wahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheits­ent­ziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

(4) …

§ 275 a StPO [Entscheidung über die Siche­rungs­ver­wahrung; Haupt­ver­handlung; Sachver­stän­di­gen­gut­achten; Unter­brin­gungs­befehl]

(1) Ist über die im Urteil vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung (§§ 66 a und 66b des Straf­ge­setz­buches, § 106 Abs. 3, 5 und 6 des Jugend­ge­richts­ge­setzes) zu entscheiden, übersendet die Vollstre­ckungs­behörde die Akten rechtzeitig an die Staats­an­walt­schaft des zuständigen Gerichts. Prüft die Staats­an­walt­schaft, ob eine nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung in Betracht kommt, teilt sie dies dem Betroffenen mit. Die Staats­an­walt­schaft soll den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung nach § 66 b Abs. 1 oder 2 des Straf­ge­setz­buches oder nach § 106 Abs. 5 des Jugend­ge­richts­ge­setzes spätestens sechs Monate vor dem Zeitpunkt stellen, in dem der Vollzug der Freiheitsstrafe oder der freiheits­ent­zie­henden Maßregel der Besserung und Sicherung gegen den Betroffenen endet. Sie übergibt die Akten mit ihrem Antrag unverzüglich dem Vorsitzenden des Gerichts.

(2) Für die Vorbereitung und die Durchführung der Haupt­ver­handlung gelten die §§ 213 bis 275 entsprechend, soweit nachfolgend nichts anderes geregelt ist.

(3) Nachdem die Haupt­ver­handlung nach Maßgabe des § 243 Abs. 1 begonnen hat, hält ein Berich­t­er­statter in Abwesenheit der Zeugen einen Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens. Der Vorsitzende verliest das frühere Urteil, soweit es für die Entscheidung über die vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung von Bedeutung ist. Sodann erfolgt die Vernehmung des Verurteilten und die Beweisaufnahme.

(4) Das Gericht holt vor der Entscheidung das Gutachten eines Sachver­ständigen ein. Ist über die nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung zu entscheiden, müssen die Gutachten von zwei Sachver­ständigen eingeholt werden. Die Gutachter dürfen im Rahmen des Strafvollzugs oder des Vollzugs der Unterbringung nicht mit der Behandlung des Verurteilten befaßt gewesen sein.

(5) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, daß die nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung angeordnet wird, so kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unter­brin­gungs­befehl erlassen. In den Fällen des § 66 b Abs. 3 des Straf­ge­setz­buches und des § 106 Abs. 6 des Jugend­ge­richts­ge­setzes ist das für die Entscheidung nach § 67 d Abs. 6 des Straf­ge­setz­buches zuständige Gericht für den Erlass des Unter­brin­gungs­befehls so lange zuständig, bis der Antrag auf Anordnung der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung bei dem für diese Entscheidung zuständigen Gericht eingeht. In den Fällen des § 66 a des Straf­ge­setz­buches und des § 106 Abs. 3 des Jugend­ge­richts­ge­setzes kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unter­brin­gungs­befehl erlassen, wenn es im ersten Rechtszug bis zu dem in § 66 a Abs. 2 Satz 1 des Straf­ge­setz­buches bestimmten Zeitpunkt die vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung angeordnet hat. Die §§ 114 bis 115a, 117 bis 119 und 126a Abs. 3 gelten entsprechend.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 73/05 des BGH vom 11.05.2005

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