Im zugrunde liegenden Fall wollte eine Mutter mit ihren zwei Kindern (7 und 13 Jahre) in Stuttgart an der Haltestelle Bahnhof Feuerbach in die Straßenbahn der Linie 13 einsteigen. Die Frau half zunächst ihrem kleinen Kind in die Straßenbahn einzusteigen und wies ihm einen Platz zu. Danach wollte sie ihrem 13 Jahre alten und geistig behinderten Sohn in die Straßenbahn helfen. Dieser kann zwar normal gehen, jedoch nicht sprechen und sich nicht orientieren, weshalb er hilflos ist.
Der Sohn leistete der Bitte der Mutter, die Straßenbahn zu betreten, nicht sofort Folge, sondern blieb stehen. Er hatte Angst, die Tür könne sich beim Betreten unvermittelt schließen. Die Mutter bat ihren Sohn ein paar Mal, die Straßenbahn zu besteigen. Der Straßenbahnfahrer schloss sodann, obwohl er erkannt hatte, dass das Kind auf dem Bahnsteig zur Mutter gehörte, die Wagentür und fuhr los, weil er bereits Verspätung hatte. Der geistig behinderte Junge blieb auf dem Bahnsteig zurück.
Die Frau informierte darauf hin den Fahrer der Straßenbahn, dass ihr Sohn geistig behindert sei. Der Bitte der Frau, die Bahn sofort anzuhalten, entsprach der Fahrer nicht, da sich die Türen nach dem Anfahren nicht mehr Öffnen ließen. Auch ein Zurückfahren war nicht möglich. Obwohl der Fahrer zu diesem Zeitpunkt wusste, dass das Kind hilflos war, bot er der Mutter keine Hilfe an. Er fuhr ohne weitere Maßnahmen zu treffen weiter.
An der nächsten Station stieg die Mutter mit ihrer Tochter aus, und fuhr mit einer anderen Bahn zurück. Ihr geistig behinderter Sohn war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vor Ort. Erst durch die Hilfe eines anderen Straßenbahnfahrers, der die Leitzentrale verständigte, konnte die Frau ihren Sohn wieder finden.
Das Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt verurteilte den Straßenbahnfahrer wegen Nötigung gemäß § 240 StGB zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 80,- DM (insgesamt 3.200,- DM). Nach Auffassung des Gerichts erfülle der Vorgang des Schließens der Tür durch Knopfdruck des Angeklagten das Tatbestandsmerkmal der Gewalt. Entscheidend sei für die Bejahung der Gewaltanwendung, wie sich die Handlung auf das Opfer auswirke. Hier habe die Mutter die Straßenbahn nicht mehr verlassen können und sei gezwungen gewesen, ihr hilfloses Kind an der Straßenbahnhaltestelle stehen zu lassen.
Diese Tat sei auch gemäß § 240 Abs. 2 StGB rechtswidrig gewesen, stellte das Gericht weiter fest. Zwar sei der Zweck der Maßnahme, nämlich den Fahrplan möglichst einzuhalten, nicht rechtswidrig. Dies dürfe aber nicht durch die Hinnahme der Trennung von Mutter und Kind geschehen. Das eingesetzte Mittel war nach Auffassung des Gerichts verwerflich, weil sittlich in erhöhtem Maß zu missbilligen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 09.11.2011
Quelle: ra-online, Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt (vt/pt)