21.11.2024
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Dokument-Nr. 4502

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Beschluss14.06.2007Bundesverfassungsgericht2 BvR 1447/05; 2 BvR 136/05
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Bundesverfassungsgericht Beschluss14.06.2007

§ 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO bei verfas­sungs­kon­former Auslegung mit Grundgesetz vereinbar

§ 354 Straf­pro­zess­ordnung ist durch das 1. Justiz­mo­der­ni­sie­rungs­gesetz vom 24. August 2004 um den Absatz 1 a ergänzt worden. Die neue Bestimmung erlaubt dem Revisi­ons­gericht u.a., von einer Aufhebung des angefochtenen Urteils abzusehen, wenn dem Tatgericht bei der Strafzumessung zwar ein Fehler unterlaufen ist, sich die verhängte Rechtsfolge aber gleichwohl als „angemessen“ herausstellt.

Gegenstand der Verfas­sungs­be­schwerden sind Revisi­ons­ent­schei­dungen des Branden­bur­gischen Oberlan­des­ge­richts und des Bundes­ge­richtshofs. In beiden Fällen hatte das Gericht unter Anwendung von § 354 Abs. 1 a StPO von der Aufhebung des Rechts­fol­ge­n­aus­spruchs abgesehen.

Der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts stellte fest, dass § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO mit dem Grundgesetz vereinbar ist, wenn die Vorschrift verfas­sungs­konform ausgelegt wird. Die Entscheidung des Branden­bur­gischen Oberlan­des­ge­richts hob der Senat jedoch auf, weil sie dem verfas­sungs­konform ausgelegten § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO nicht gerecht wird. Die Entscheidung des Bundes­ge­richtshofs hatte keinen Bestand, da das Gericht nach § 354 Abs. 1 a StPO entschieden hatte, obwohl die Voraussetzungen für eine Anwendung dieser Norm nicht vorlagen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Die verfas­sungs­rechtliche Problematik des § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO liegt darin, dass das Revisi­ons­gericht die Strafe nach Aktenlage zumessen kann. Grundlage ist der durch die Vorinstanz vorformulierte Straf­zu­mes­sungs­sach­verhalt. Nach seinem Wortlaut stellt § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO nicht verlässlich sicher, dass das Revisi­ons­gericht seine Straf­fest­setzung auf der Grundlage eines wahren Straf­zu­mes­sungs­sach­verhalts trifft. Einzige Erkennt­nis­quelle der Revisi­ons­ge­richte ist das angegriffene Urteil. Dieses kann auf Fehlern in der Sachver­halts­auf­klärung beruhen, die für das Revisi­ons­gericht nicht immer erkennbar werden. Aber auch ohne Versäumnisse und Fehler der Tatgerichte bei der Sachver­halts­auf­klärung bieten die vorin­sta­nz­lichen Erkenntnisse nicht immer Gewähr für eine ausreichende Straf­zu­mes­sungs­grundlage. Amts- und Landgerichte sind gesetzlich nicht zu vollständiger und abschließender Dokumentation ihrer Straf­zu­mes­sungs­gründe verpflichtet. Hinzu kommt, dass sich das Wissen des Tatrichters, der die Strafe unter dem Eindruck der Haupt­ver­handlung zuzumessen und zu verantworten hat, einem Dritten, der die Verhandlung nicht selbst unmittelbar erlebt hat, nur unzureichend vermitteln lässt.

§ 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO ist daher verfas­sungs­konform dahingehend auszulegen, dass das Revisi­ons­gericht nur dann eine eigene Strafzumessung vornehmen darf, wenn ihm ein zutreffend ermittelter, vollständiger und aktueller Straf­zu­mes­sungs­sach­verhalt zur Verfügung steht. Dabei kann das Revisi­ons­gericht auf Grund der Fehler­an­fäl­ligkeit jeglicher Strafzumessung anhand eines vorin­sta­nz­lichen Urteils nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass ihm ein Sachverhalt zur Verfügung steht, der für eine fehlerfreie Strafzumessung hinreicht. Von Ausnahmen abgesehen, wird es sich deshalb über das Vorliegen einer vollständigen und verlässlichen Entschei­dungs­grundlage Gewissheit verschaffen müssen. Dies kann dadurch geschehen, dass das Gericht dem Angeklagten eine Gelegenheit zur Stellungnahme im Revisi­ons­ver­fahren einräumt. Dabei hat das Revisi­ons­gericht den Angeklagten grundsätzlich auf die aus seiner Sicht für eine Straf­zu­mes­sungs­ent­scheidung nach § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO sprechenden Gründe hinzuweisen. Aufgrund der vom Angeklagten abgegebenen Stellungnahme hat das Revisi­ons­gericht zu entscheiden, ob stichhaltige Gründe vorliegen, die einer eigenen Strafzumessung im Wege stehen.

Macht das Revisi­ons­gericht von der ihm eingeräumten Straf­zu­mes­sungs­kom­petenz Gebrauch, muss es – ungeachtet des Grundsatzes, wonach letzt­in­sta­nzliche Entscheidungen nicht begründet werden müssen – seine Entscheidung jedenfalls dann begründen, wenn die für die Strafzumessung relevanten Umstände und deren konkretes Gewicht dem Angeklagten sonst nicht nachvollziehbar wären. Eine Straf­zu­mes­sungs­ent­scheidung des Revisi­ons­ge­richts, die auf bislang im Verfahren nicht oder wesentlich anders gewichteten Umständen beruht, dies aber nicht erkennen lässt, würde die allgemeinen Grundsätze eines rechts­s­taat­lichen und transparenten Strafverfahrens nicht hinreichend beachten und brächte die Gefahr mit sich, dass sich der Angeklagte als Objekt staatlichen Handelns empfindet und die Akzeptanz der Entscheidung leidet.

II. Der Beschluss des Branden­bur­gischen Oberlan­des­ge­richts wird dem verfas­sungs­konform ausgelegten § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO nicht gerecht. Das Oberlan­des­gericht hat seine Entscheidung nicht ausreichend begründet und damit den Anspruch des Beschwer­de­führers auf ein faires Verfahren verletzt.

Der Beschluss des Bundes­ge­richtshofs verletzt den Beschwer­de­führer in seinem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Bundes­ge­richtshof hat nach § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO entschieden, obwohl die Voraussetzungen für eine Anwendung dieser Norm nicht vorlagen. Durch diese Annahme eigener Zuständigkeit wurde dem Beschwer­de­führer der gesetzliche Richter entzogen. Es lag nicht lediglich eine Geset­zes­ver­letzung bei der Zumessung der Rechtsfolgen vor. Vielmehr nahm der Bundes­ge­richtshof zugleich eine Korrektur des Schuldspruchs vor. Dieses Vorgehen ist mit dem Wortlaut des § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO nicht zu vereinbaren. Die Bestimmung lässt ihre Anwendung „nur“ bei einer Geset­zes­ver­letzung anlässlich der Zumessung der Rechtsfolgen zu. Dies schließt eine Straf­zu­mes­sungs­ent­scheidung des Revisi­ons­ge­richts aus, wenn zugleich eine Neuentscheidung über einen – fehlerhaften – Schuldspruch erfolgen muss.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 76/07 des BVerfG vom 06.07.2007

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