18.10.2024
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Dokument-Nr. 28914

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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.05.2020

BVerfG: Verfas­sungs­­­be­schwerde gegen Neuregelung zur Tarifkollision erfolglosVerfassungs­beschwerden wegen Verstoßes gegen die Subsidiarität unzulässig

Das Bundes­verfassungs­gerichts hat mit Beschluss drei Verfassungs­beschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die Neuregelung zur Tarifkollision nach dem Urteil des Bundes­verfassungs­gerichts vom 11. Juli 2017 in § 4 a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 des Tarifvertrags­gesetzes (TVG) wenden. Den Beschwer­de­führen-den, zwei Gewerkschaften und einem Dachverband von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, geht der Schutz gegenüber größeren Gewerkschaften durch die neue Regelung nicht weit genug. Sie müssen die aufgeworfenen Fragen jedoch zunächst von den Fachgerichten klären lassen. Die Verfassungs­beschwerde ist insofern subsidiär.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Nach den Vorschriften des Tarif­ver­trags­ge­setzes wird im Fall der Kollision mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb grundsätzlich der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft verdrängt, die weniger Mitglieder im Betrieb organisiert. Mit Urteil vom 11. Juli 2017 hat der Erste Senat die Kolli­si­ons­re­gelung insoweit für verfas­sungs­widrig gehalten, als Vorkehrungen dagegen fehlten, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen in einem solchen Fall einseitig vernachlässigt werden. Der Gesetzgeber verabschiedete daraufhin zum 1. Januar 2019 die neue Regelung des § 4 a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG, gegen die sich die Rechts­satz­ver­fas­sungs­be­schwerden wenden.

Gewerkschaften rügten Verletzung der Koali­ti­o­ns­freiheit

Nach der Neuregelung sind neben dem Tarifvertrag der Mehrheits­ge­werk­schaft in einem Betrieb auch die Rechtsnormen des Minder­heit­s­ta­rif­vertrags anwendbar, wenn beim Zustandekommen des Mehrheit­s­ta­rif­vertrags die Interessen von Arbeits­neh­mer­gruppen, die von dem Minder­heit­s­ta­rif­vertrag erfasst werden, nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt sind. Die drei Beschwer­de­füh­renden, die sich selbst als Sparten­ge­werk­schaften betrachten, rügen insbesondere eine Verletzung der Koali­ti­o­ns­freiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG.

BVerfG: Zweifel an unmittelbar Betroffenheit der Beschwer­de­füh­renden

Das BVerfG hat mit Beschluss die Verfas­sungs­be­schwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Es bestehen Zweifel, ob die Beschwer­de­füh­renden in einer den Anforderungen des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts­ge­setzes genügenden Weise dargelegt haben, dass sie durch die angegriffene gesetzliche Regelung unmittelbar betroffen sind. Bislang sind weder von ihnen geschlossene Tarifverträge unanwendbar geworden noch wurde ihr gewerk­schaft­liches Handeln unmöglich; vielmehr haben sie die Verdrän­gungs­wirkung von § 4 a TVG abbedungen. Es ist auch zumindest fraglich, ob die neue Regelung tatsächlich geeignet ist, Gewerkschaften, die in einem Tarifbereich voraussichtlich weniger Mitglieder organisieren als andere, aus dem Tarifgeschehen zu verdrängen. Die angegriffene Regelung in § 4 a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG führt, anders als die vorhergehende, vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht im Urteil zur Tarifeinheit vom 11. Juli 2017 zum Teil beanstandete Regelung gerade dazu, dass der Tarifvertrag der Minder­heits­ge­werk­schaft nicht immer und voraus­set­zungslos verdrängt wird. Das kann nur geschehen, wenn und soweit die Interessen der Arbeit­neh­mer­gruppe der Minder­heits­ge­werk­schaft beim Zustandekommen des von der Mehrheits­ge­werk­schaft abgeschlossenen Tarifvertrags ernsthaft und wirksam berücksichtigt worden sind. Wo es daran fehlt, wird ihr Tarifvertrag auch nicht verdrängt.

Verletzung der Koali­ti­o­ns­freiheit nicht ausreichen dargelegt

Nach Auffassung des BVerfG bestehen auch Zweifel, ob die Verfas­sungs­be­schwerden hinsichtlich der Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten hinreichend substantiiert sind. Die allgemeine Rüge, sie seien in ihrem Recht aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt, weil sie zwingend Interessen von Nicht-Mitgliedern zu berücksichtigen hätten, genügt insofern nicht. Die Beschwer­de­füh­renden legen nicht dar, inwieweit tatsächlich ein Zwang bewirkt wird. Wenn sie relevante Interessen nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigen, sind nach § 4 a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG lediglich auch die Rechtsnormen des Minder­heit­s­ta­rif­ver­trages anwendbar. Inwieweit dies dazu zwingt, für andere mit zu verhandeln, erschließt sich nicht. Es ist nicht dargelegt, inwiefern eine solidarische Erwartung, die über die Inter­es­sen­ver­tretung der Mitglieder hinausgeht, Gewerkschaften in ihren Rechten aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt.

Zunächst müssen Fachgerichte angerufen werden

Jedenfalls sind die Beschwer­de­füh­renden zunächst auf den Rechtsweg zu den Fachgerichten zu verweisen. Hier wurden die Fachgerichte vorher nicht befasst und es liegt kein Ausnahmefall vor, der die Pflicht zu ihrer Anrufung ausnahmsweise entfallen lassen würde. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass es von vornherein sinn- und aussichtslos wäre, zunächst den Rechtsweg zu beschreiten. Die Rechtslage unterscheidet sich mit der Neuregelung von der Situation, die der Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zum Tarifein­heits­gesetz zugrunde lag. Hier ist nicht dargelegt, dass die Beschwer­de­füh­renden überhaupt keine Tarifverträge schließen und daher auch keine fachge­richtliche Entscheidung über den im Betrieb anwendbaren Tarifvertrag herbeiführen könnten; sie haben die Verdrän­gungs­wirkung von § 4 a TVG vielmehr abbedungen. Verzichten sie damit aber selbst auf eine Möglichkeit, die Fachgerichte anzurufen, lässt das die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht entfallen.

Fachgerichten obliegt Klärung der aufgeworfenen Fragen

Werden die Fachgerichte angerufen, müssten diese klären, ob beim Zustandekommen des Mehrheit­s­ta­rif­vertrags die gesetzlichen Anforderungen erfüllt worden sind, die zu einer Verdrängung von Tarifverträgen führen können. Das wäre jeweils konkret und unter Berück­sich­tigung der grund­recht­lichen Wertungen des Art. 9 Abs. 3 GG zu klären. Dabei kann sich der Tarifvertrag der Mehrheits­ge­werk­schaft gerade nicht auf eine Richtig­keits­ver­mutung zugunsten aller unter seinen Geltungsbereich fallenden Beschäftigten stützen, sondern die Gerichte haben zu entscheiden, ob alle insoweit relevanten Interessen berücksichtigt worden sind. Inwiefern die hier angegriffene Neuregelung dann auf praktische Schwierigkeiten stößt, muss sich zunächst vor Ort zeigen, bevor das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts die Frage beantworten kann, ob sie mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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